gedenkstein

Da liegt er nun, umgeben von einem kleinen Beet - fast wie ein überdimensionaler Grabstein.
Wind und Wetter, Schnee und Eis, Hitze und Kälte können ihm nichts anhaben - ebenso wenig wie das Getümmel auf dem Schulhof, das ihn umgibt, die Kommentare, die ihm gelten, oder die Vögel, denen er als willkommener Zwischenstopp dient.

Seine raue Oberfläche, die gesprenkelte Farbe und eine von den Naturkräften geschaffene unregelmäßige Form lassen ihn fast wie einen Findling aussehen . . . wenn da nicht diese drei Namen wären, die seinem Millionen Jahre währenden Dasein als tonnenschwerer Steinbrocken eine neue, besondere Bedeutung geben würden.

Es sind die Namen junger Männer, die mitten aus dem Leben heraus aus ihrer polnischen Heimat entführt, zur Zwangsarbeit in Deutschland verpflichtet und schließlich ermordet worden waren – nur wenige Kilometer von dem Ort entfernt, an dem der Stein seit Ewigkeiten tief unter der Erde ruhte.
Sie starben zu Frühlingsbeginn im Daverdener Holz, einer idyllischen Landschaft, die heute als Naherholungsgebiet dient – ein Zynismus der Geschichte.
Über viele Jahre geriet das Verbrechen immer mehr in Vergessenheit, wurde nur einmal in einer alten Ortschronik erwähnt. Es war eben nichts, an das man gern erinnerte wurde – wie an so vielen Orten in Deutschland und ehemaligen Besatzungsgebieten, wo „eigentlich niemand etwas Genaues wusste“, denn „es war ja Krieg“.
Es hätte Jahrzehnte so weitergehen können, bis mit den letzten Zeitzeugen und Angehörigen der Mordopfer auch die letzten Reste dunkler Erinnerungen verschwunden wären.

Im Herbst 2006 kam die Wende - auch für das Schicksal des Steins:

Die damalige Hauptschulklasse 9b stieß bei ihren Nachforschungen über geschichtliche Vorgänge in Langwedel während der NS-Diktatur auf die Recherchen von Dr. Woock (Verden), einige archivierte Zeitungs- und Heimatkalenderartikel sowie Äußerungen von Zeitzeugen, die die Einzelheiten eines ungeheuerlichen Verbrechens immer plastischer vor Augen führten:

Am 23. März 1944, morgens um 8.55 Uhr, wurden die polnischen Zwangsarbeiter Feliks Puchalski (24 Jahre), Stanisław Rutkowski (21 Jahre) und Marian Królikowski (20 Jahre) auf dem Gelände des ehemaligen Schützenplatzes durch Erhängen hingerichtet – wegen des Diebstahls einer lächerlichen Menge von Lebensmitteln.
Die Schüler fragten später bei Verwandten und Bekannten nach, was diese über die damaligen Vorfälle wussten. Schnell zeigte sich, dass nur wenig bekannt war und die Kenntnisse über die Geschichte des eigenen Wohnortes - insbesondere die NS-Zeit betreffend - verbreitet dürftig waren. Es bestürzte die Schüler und mich besonders, dass trotz Erwähnung der Hinrichtung in einer Ortschronik aus den 50er Jahren anscheinend nie eine Gedenkstelle für die drei Opfer in Betracht gezogen worden war. Hier ergab sich für die Schüler und Schülerinnen die Chance, aus dem Unterricht heraus einen Beitrag zur Versöhnung des Ortes mit dieser traurigen Last der Vergangenheit zu leisten.
Die folgenden Monate waren geprägt von einer langen Reihe von Diskussionen, Aktionen, Schriften, Interviews, Telefonaten, Rathausbesuchen - unvorstellbar, was für Probleme die kritische Würdigung geschichtlicher Ereignisse bereiten kann.

Und der Stein? Der war mittlerweile als Abraum des Kieswerks Bohlmann aus dem Sediment geholt und auf der werkseigenen Wiese gelandet.
Die Schüler der H9b fanden ihn, begutachteten ihn und wollten ihn – als Gedenkstein für die Mordopfer des 23.03.1944.
Eine Inschrift wurde gefunden – mit dabei das Bibelzitat über die Liebe aus dem Korintherbrief.
Ob Marian, Feliks und Stanislav unmittelbar vor ihrem Tod glaubten oder noch Hoffnung hatten, vermag niemand zu sagen. Aber die Liebe ihrer Angehörigen und Freunde blieb ihnen bis über den Tod hinaus gewiss.
Am 21. November 2007 – mehr als 63 Jahre nach den Hinrichtungen – war es endlich soweit:
In Gegenwart des polnischen Vizekonsuls Kaczmarek, des Bürgermeisters, der Schulleitung, vieler Gäste, Zeitungsreporter und natürlich Schülern und Schülerinnen wurde aus einem Stein, der zuletzt nur noch dem Kiesabbau im Wege gelegen hatte, eine Gedenkstätte.
Und so lange er jeden Tag Schüler und Schülerinnen, Mitarbeiter und Besucher der Schule grüßt, unbeeindruckt vom Wechsel der Jahreszeiten, dem Betrieb auf dem Schulhof oder den Diskussionen, die sein Aufstellungsort verursachte, wird er durch seine ständige Präsenz an die getöteten drei jungen Männer und auch daran erinnern, wie schnell aus menschlichen Schwächen unmenschliches Leid entstehen kann.

Zum Gedenken an die polnischen Zwangsarbeiter

Feliks Puchalski
*15.11.1919
Stanislaw Rutkowski *06.03.1923
Marian Królikowski *09.08.1924

Opfer des Nationalsozialismus
hingerichtet im Daverdner Holz am 23. März 1944

Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei;
aber die Liebe ist die größte unter ihnen
1. Korinther 13.

Frank Pfeifer

gedenkstein

Go to top